Sehr geehrte Frau Althaus,
Russlands Krieg gegen die Ukraine, der auch vom Territorium von Belarus aus geführt wird, stellt die Geschichtswissenschaft vor Herausforderungen. Sie fallen für die Erforschung der Geschichten der drei Länder jedoch sehr unterschiedlich aus.
In der Ukraine hat sich ein vorbildlich offenes Archivwesen ausgebildet, das hervorragende Nutzungsmöglichkeiten bietet und nach dem Krieg auch wieder bieten wird. Der einzige unkalkulierbare Faktor bezüglich der ukrainischen Archiv- und Bibliothekslandschaft ist die Frage, welche Zerstörungen Russlands Vernichtungskrieg womöglich auch noch an Archiven und Bibliotheken anrichten wird.
Ganz anders stellt sich die Lage in Russland und Belarus dar. Hier sind zwar die Archive und Bibliotheken intakt. Der Zugang zu ihnen ist jedoch in mehrfacher Hinsicht erheblich erschwert. Die Unterbrechung institutioneller Wissenschaftskooperation seitens Deutschlands und die Praxis Russlands, für Forschungsaufenthalte eigene Visa zum Zweck der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zu fordern, schaffen im Zusammenklang einen Ausschlussmechanismus. Hinzu kommt, dass die Gesetzeslage in Russland bestimmten Themen der Geschichte des 20. Jahrhunderts – vor allem zum Stalinismus und dem Zweiten Weltkrieg – im Rahmen des sogenannten
Extremismusgesetzes bestimmte Deutungsmuster oktroyiert, was auch zu einer Erschwernis der Forschung in Russland führen kann. Ob dies tatsächlich den Archivzugang blockiert, bleibt noch abzuwarten. Auch in Belarus findet eine propagandistische Zensur der Lehrbücher und eine Kontrolle des Buchmarktes statt. Unabhängig denkende Historikerinnen und Historiker haben Belarus verlassen.
Putin und Lukaschenka sehen ihre Länder in einer fundamentalen Auseinandersetzung mit dem Westen, den beide als Strippenzieher entweder der Opposition in Belarus oder der Regierung in der Ukraine diffamieren. Dabei bezeichnet Lukaschenka die Opposition in Belarus als faschistisch, und Putin betrachtet die ukrainische Regierung als neonazistisches Regime. Die Absurdität dieser Propaganda können wir hier auf sich beruhen lassen, um zu den Auswirkungen für die Geschichtswissenschaft überzugehen. In Belarus und Russland wird Geschichte als Legitimitätsressource für das Regime in Anspruch genommen und eine freie, kritische Geschichtswissenschaft wird damit insbesondere für die Geschichte des 20. Jahrhunderts unmöglich gemacht. Damit ist fundamental in Frage gestellt, ob es nach einem Ende des Krieges – dessen Zeitpunkt vollkommen unabsehbar ist – eine Rückkehr zu Archivforschungen für Historiker*innen aus Deutschland in Belarus und Russland geben wird. So lange Krieg ist, empfiehlt es sich, unabhängig von der Politisierung von Geschichte und Fragen der Archivzugänglichkeit aus Sicherheitsgründen Archivreisen nach Belarus und Russland gründlichst abzuwägen und für Aufschübe und die Suche nach möglichen Substituten Verständnis aufzubringen.
Nach einem Ende des Krieges droht unter der Prämisse der Systemstabilität der Regime von Lukaschenka und Putin eine Rückabwicklung der Archivrevolution. Die Osteuropäische Geschichte, die wir kennen, ist gekennzeichnet von der Archivrevolution der 1990er Jahre. Vormals verschlossene Archive öffneten sich und erlaubten es, eine Geschichte des östlichen Europas zu schreiben, die unmittelbare Tuchfühlung mit dem Quellenmaterial in den Archiven aufnahm und damit eine hohe Plastizität ihrer Forschungsergebnisse sicherstellte. Diese Errungenschaft ist momentan schwer bedroht. Inwieweit es in Zukunft möglich sein wird, das DHI Moskau als Türöffner zu Archiven zu nutzen oder an Personen in Russland und Belarus Werkverträge für Archivrecherchen zu vergeben, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beantwortet werden. Das DHI Moskau weitet derzeit seine Archivservices aus. Die Beschaffbarkeit von Dokumenten wäre im jeweiligen Einzelfall in Abstimmung mit dem DHI Moskau zu prüfen. Ähnliches gilt für die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte in Minsk (IBB) und ihre Geschichtswerkstatt.
Für Forschungen und damit auch für Anträge an die DFG zu den Geschichten in Belarus und Russland – sowie in großen Teilen auch der Sowjetunion – hat dies schwere Konsequenzen. Die Forschungen werden nach neuen Wegen zum Quellenmaterial suchen müssen. Die Anträge sind auf eine Begutachtung angewiesen, die die erschwerten Umstände in Rechnung stellt.
Die Forschung für die Zeit des Krieges oder einer Archivkonterrevolution ruhen zu lassen, kann keine Option sein. Wissenschaft ist auf kontinuierliche Weiterentwicklung angewiesen. Das gilt gleichermaßen für den Forschungsdiskurs an sich wie auch für die Qualifikation junger Wissenschaftler*innen in Dissertationen und Habilitationen. Einige Ausweichstrategien sind denkbar:
Wir können für viele der in diesem Brief genannten Probleme leider keine ad-hoc-Lösungen präsentieren, halten es aber für unsere Pflicht, im Interesse der Geschichtsschreibung über Belarus, Russland und die Sowjetunion auf die Schwierigkeiten hinzuweisen. Sollte sich unsere oben ausgeführte Prognose zur Ukraine als leider zu optimistisch erweisen, stünde die Ukraine-Geschichtsschreibung vor ähnlichen Problemen. Wir möchten bitten, diese Hindernisse bei der Begutachtung von Anträgen zur Geschichte der genannten Länder zu berücksichtigen und stehen gerne jederzeit für Rückfragen und einen weiteren Austausch zur Verfügung.
Freundliche Grüße
Prof. Dr. Martin Aust
Universität Bonn
Vorsitzender des Verbands der Osteuropahistorikerinnen und -historiker (VOH)
Prof. Dr. Thoma Bohn
Universität Gießen
DAAD Belarus-Schwerpunkt am Gießener Zentrum östliches Europa (GiZo)
Prof. Dr. Martin Schulze Wessel
LMU München
Co-Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission
Bonn, Gießen, München, 15.09.2022